• Lübbecke
  • Espelkamp
  • Rahden
  • Pr. Oldendorf
  • Hüllhorst
  • Stemwede

Ein Trauma lässt sich nicht weglöschen

Minden-Lübbecke -

Wie können Pflegekräfte ältere traumatisierte Frauen unterstützen? Diese Frage stand im Mittelpunkt eines Runden Tisches gegen häusliche Gewalt, zu dem die PRIO-Vernetzung (Prävention-Intervention-Opferschutz) in das Kreishaus in Minden eingeladen hatte. Unter den rund 80 Teilnehmenden waren Vertreterinnen und Vertreter aus den Bereichen Altenhilfe und Altenpflege, frauenunterstützende Einrichtungen, Mitglieder des Kreistages sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Betreuungswesen.

Zentral ist, dass das Thema nicht mehr tabuisiert wird, dass Pflegekräfte durch Schulungen sensibilisiert und aufgeklärt werden. Außerdem gehören Öffentlichkeitsarbeit und eine traumasensible Vorgehensweise in Pflegesituationen dazu, wenn es darum geht, ältere traumatisierte Frauen zu unterstützen.

Wie können Pflegekräfte ältere traumatisierte Frauen unterstützen? Diese Frage stand im Mittelpunkt eines Runden Tisches gegen häusliche Gewalt.

Ansprechpartner in Sachen Trauma und Ängste sind von links Klaus Marschall, Kreis Minden-Lübbecke, Koordinator für Behinderten- und Seniorenbelange, Anke Lesner, Wildwasser Bielefeld e.V. und Andrea Strulik, Kreis Minden-Lübbecke, Gleichstellungsbeauftragte.(Foto: Mirjana Lenz - Kreis Minden-Lübbecke)

„Mit dem Alter können schmerzvolle Erinnerungen und Ängste aus der Vergangenheit zurückkehren“, sagt Andrea Strulik, Gleichstellungsbeauftragte des Kreises Minden-Lübbecke in ihrer Begrüßung. „Insbesondere kritische Lebensereignisse wie zum Beispiel der Verlust des Partners oder der Partnerin, die eigene Pflegebedürftigkeit oder eine veränderte Wohnsituation werden häufig als verunsichernd erlebt und können an frühere Erlebnisse der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins erinnern“, sagt Andrea Strulik.

Etwa zwei Drittel der Menschen, die den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit erlebt haben, waren traumatisierenden Ereignissen wie zum Beispiel Vergewaltigung, Misshandlung, Bombardierung, Flucht und Vertreibung ausgesetzt, so Referentin Anke Lesner. Sie ist Diplom-Pädagogin, Systemische Therapeutin, Supervisorin, Fachberaterin für Psychotraumatologie und Alterspsychotherapeutin und arbeitet bei Wildwasser Bielefeld e.V. in der Geschäftsführung. Schwerpunkt ihrer Tätigkeit ist zurzeit das Projekt „Alter und Trauma“.

Das Projekt ist ein landesweites Verbundprojekt unter der Gesamtkoordination von PariSozial Minden-Lübbecke/Herford. Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung e.V., Köln (dip), gefördert wird es von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW und dem Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen (MGEPA NRW).

Im Mittelpunkt des Projekts stehen die betroffenen Frauen selbst, für sie werden Hilfsangebote entwickelt und bereitgestellt. Dabei werden auch pflegende Angehörige einbezogen. Sie stehen häufig am Rande der Überforderung und der Hilflosigkeit, wenn bei der pflegebedürftigen Person traumatische Erinnerungen aufbrechen und sie quälen. Eine weitere Zielgruppe des Projekts sind Ehrenamtliche und professionelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Altenhilfe und Altenpflege. Auch sie benötigen Informationen und Verständnis über (Kriegs-) Traumata und die Folgen. Vielfach fehlt es noch an Handlungsmöglichkeiten für den Umgang mit den Symptomen, um Retraumatisierungen und Trauma-Reaktivierungen zu vermeiden.

Unabhängig von Kriegserlebnissen führt auch häusliche Gewalt zu Traumatisierungen. Ein traumatisches Ereignis ist eine Extremsituation: Es gibt nichts, womit der betroffene Mensch Vorerfahrungen gemacht hat und woran eventuell angeknüpft werden kann; Flucht und Gegenwehr sind nicht möglich. „Es kommt zu einem Erstarren, einem Sich-Einfrieren, einem Gefühl der Ohnmacht und einer Todesangst, die das Selbst- und Weltbild erschüttern“, erläutert Anke Lesner.

Das Wissen um traumatische Erlebnisse könne Pflegehandlungen effektiver gestalten. Hierfür seien Biographiearbeit und eine enge Zusammenarbeit mit den Angehörigen von zentraler Bedeutung. Zum Beispiel wehrte sich eine pflegebedürftige Person massiv gegen das Duschen. Durch die traumasensible Biographiearbeit stellte sich für die betroffene Frau heraus: „Duschen war Gaskammer!“

Weit verbreitete Meinung ist, dass in Pflegeeinrichtungen häufig die Zeit für eine intensivere Beschäftigung mit den Pflegebedürftigen fehle. Wenn aber die massive Abwehr des Duschens nicht ständig wieder neu überwunden werden muss, steht effektiv mehr Zeit für die Bewohnerin oder den Bewohner zur Verfügung. Möglichst gemeinsam mit der Bewohnerin oder dem Bewohner und den Angehörigen müssen Gestaltungsmöglichkeiten ausgelotet und alternative Vorgehensweisen gefunden werden. So können alle Beteiligten mit der Situation besser umgehen und zudem werden die Abläufe in der Pflege optimiert.

Schritte auf dem Flur, ein bestimmter Akzent in der Sprache oder die Nachricht, dass eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft werden muss – all dies können Auslöser einer Trauma-Reaktivierung sein, so Anke Lesner. Der Umgang mit Trauma in der Pflege sei eine Frage der Schulung und der Haltung.

Auch die Rolle niedergelassener Ärztinnen und Ärzte wurde thematisiert. Für sie gibt es ein Informationsblatt zum Thema “Sexualisierte Gewalterfahrungen im Leben heute alter Frauen“. Auch ging es darum, dass Traumatisierung durchaus an die nächste Generation weitergegeben werden kann, was zum Beispiel zu Bindungsstörungen bei Eltern und Kindern führen kann.
Ein Trauma ist nicht aus dem Leben eines Menschen wegzulöschen, so Anke Lesner: „Es ist wichtig und möglich, einen Umgang mit den seelischen Verletzungen zu finden, sozusagen eine gute Wundversorgung. Aber eine Narbe bleibt.“

Ausführliche Informationen zum Projekt „Alter und Trauma“ sind im Internet unter www.alterundtrauma.de erhältlich. (Text: Sabine Ohnesorge - Kreis Minden-Lübbecke)