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Der Weg vom Rollstuhl auf die eigenen zwei Beine

Minden -

Mit den Händen arbeiten. Kreativ sein. Und anderen Menschen damit etwas Gutes tun. Vor drei Jahren waren das die Gründe, warum sich Luis Schröer nach seinem Abitur nicht für ein Studium entschied, sondern für eine Ausbildung. Eine Ausbildung zum Orthopädietechnik-Mechaniker in der Technischen Orthopädie der Auguste-Viktoria-Klinik. Jetzt, drei Jahre später, hat er nicht nur seinen Gesellenbrief in der Tasche, sondern auch den Vertrag für eine Weiterbeschäftigung an seinem Ausbildungsort.

Die Technische Orthopädie der Auguste-Viktoria-Klinik verwirklicht Träume

Luis Schröer hält eine Testprothese in Händen. Der Schaft aus thermoplastischem Kunststoff wird genau an den Stumpf angepasst.

Die Entscheidung von damals hat er nie bereut. „Ich hatte schon während der Schulzeit ein Praktikum hier in der Technischen Orthopädie gemacht und war begeistert von der Kombination aus handwerklicher und sozialer Komponente gewesen.“ Dieser erste Eindruck hat sich während seiner Ausbildung bestätigt: „In diesem Beruf sieht man, was man gemacht hat, und bekommt ein direktes Feedback vom Patienten – das ist das, was mir Spaß macht.“ Schon früh sei er eigenverantwortlich in die Versorgung von Patienten eingebunden gewesen, habe eng mit Therapeuten und Ärzten zusammengearbeitet und dabei die Orthopädietechnik in ihrer ganzen Vielfalt kennengelernt. Was ein dickes Plus gegenüber anderen, zum Teil sehr spezialisierten Ausbildungsbetrieben sei, findet Luis Schröer. Das bestätigt auch Orthopädie-Mechaniker-Meister Ralf Torunski. „Wir sind sehr breit aufgestellt und versorgen nicht nur die Auguste-Viktoria-Klinik und die übrigen Mühlenkreiskliniken mit Hilfsmitteln, sondern auch Einzelpatienten und Rehakliniken im Umkreis von etwa  50 Kilometern. Wir sind eine der größten, wenn nicht die größte orthopädische Werkstatt in Ostwestfalen.“ Noch dazu eine, die nicht in privater, sondern in öffentlicher Hand ist: „Die Technische Orthopädie ist eine Abteilung der Auguste-Viktoria-Klinik. Unsere Mitarbeiter sind also Klinikmitarbeiter – aber eben als Handwerker“, sagt Torunski, der selbst seit zehn Jahren hier tätig und seit 2017 Leiter der Technischen Orthopädie ist. 21 Mitarbeiter gehören zum Team, darunter zwei Meister und  vier Auszubildende. Jedes Jahr werden ein bis zwei neue Orthopädietechnik-Mechaniker ausgebildet – händeringend gesuchte Fachleute „in einem europaweiten Mangelberuf“, wie Ralf Torunski betont. Denn der Beruf erfordert nicht nur vielseitiges handwerkliches Können, sondern auch das entsprechende Know-how im Umgang mit innovativen Technologien und Materialien. „Als ich 1980 meine Lehre gemacht habe, war das klassische Holzbein noch Stand der Technik. Mitte der Neunziger wurden dann bereits die ersten mikroprozessorgesteuerten Prothesen entwickelt und heute ist das individuell gestaltete High-Tech-Produkt auch in der alltäglichen Patientenversorgung angekommen,“ berichtet Torunski.

Ein gutes Beispiel ist die Unterschenkelprothese, die Luis Schröer als Teil seiner Gesellenprüfung für Gerhard Haustein angefertigt hat

Mit einem Gipsabdruck beginnt die praktische Arbeit an einer Prothese.

Ein gutes Beispiel ist die Unterschenkelprothese, die Luis Schröer als Teil seiner Gesellenprüfung für Gerhard Haustein angefertigt hat: ein hydraulisch gesteuerter Karbonfeder-Prothesenfuß. Mehrere Arbeitsgänge sind notwendig, bis eine solche passgenaue Endprothese fertiggestellt ist. Nach einer sorgfältigen Anamnese, in der geklärt wird, welche Funktionsgrade und Aktivitätsgrade abgedeckt werden sollen und was für den Patienten in Frage kommt, wird ein Gips-Abdruck vom Stumpf genommen, mit dessen Hilfe ein Modell angefertigt wird. Dann wird eine belastungsfähige Testprothese hergestellt, die als Ausgangspunkt für die endgültige Prothese dient. Am Schluss des Prozesses steht dann die Anprobe dieser Endprothese, bei der noch einmal genau geschaut wird, ob wirklich alles passt und richtig ausgerichtet ist. Denn nur so kann erreicht werden, was Orthopädie-Mechaniker-Meister Marc Wattenberg so beschreibt: „Der Patient kommt mit dem Rollstuhl und geht auf zwei Beinen nach Hause“.

So wie im Fall von Gerhard Haustein (Foto links). Im Juli 2018 musste dem damals 68-Jährigen der linke Unterschenkel amputiert werden.Von Anfang an war die Technische Orthopädie in die weitere Versorgung eingebunden und Luis Schröer wurde – unter Aufsicht seiner Ausbilder – mit der Fertigung der Endprothese betraut. „Das hat er richtig gut gemacht. Es passte von Anfang an wie angegossen“, lobt Haustein das Gesellenstück, das auch von der Prüfungskommission mit „sehr gut“ bewertet wurde. „Das hat mir ein Stück Lebensqualität zurückgegeben.“
Ein solches Lob zu bekommen, sei „ein gutes Gefühl“, sagt Luis Schröer. Er weiß genau: Hinter jedem Versorgungsauftrag steckt ein menschliches Schicksal. Oft sind Durchblutungsstörungen, Diabetes, Krebserkrankungen oder genetisch bedingte Gefäßverschlüsse der Grund, warum ein Körperteil amputiert werden muss und der Patient als Ersatz eine Prothese benötigt. Aber auch ein Unfall kann die Ursache sein: „Wenn man dann plötzlich einen Gleichaltrigen vor sich hat, der einen Motorradunfall gehabt hat, da kommt man schon ins Grübeln“, sagt der 22-Jährige. Auch mit den Folgen eines Krieges ist er in seinem Beruf schon in Berührung gekommen, als er einen beidseitig oberschenkelamputierten Flüchtling aus dem Irak versorgte.

Neben der Herstellung maßgefertigter Prothesen oder Orthesen gibt es in Zusammenarbeit mit den Physiotherapeuten der Klinik noch ein ganz besonderes Angebot der Technischen Orthopädie: die Gehschulung. Denn auch der Umgang mit einer neuen Bein- oder Fußprothese will gelernt sein. Im Fall von Gerhard Haustein ist das allerdings nicht nötig: Er kommt mit der Prothese, die Luis Schröer für ihn angefertigt hat, bestens klar. „Ich kann wieder alles ohne Gehhilfe erledigen – sogar das Treppensteigen.“


Eine Technische Orthopädie gibt es seit 1964 an der Auguste-Viktoria-Klinik, ursprünglich spezialisiert auf orthopädische Hilfsmittel für Kinder. Seither ist die Abteilung sowohl personell wie auch in ihren Aufgaben ständig gewachsen und seit 2011 im neuen, würfelförmigen Gebäude neben der Klinik beheimatet.
Auf rund 800 Quadratmetern sind hier mehrere Werkstatträume untergebracht, in denen verschiedene Materialien verarbeitet werden: Leder, Holz und Metall ebenso wie Silikon, Kunststoff und Karbongewebe.
Nicht nur Arm- oder Beinprothesen und -orthesen, sondern beispielsweise auch Stützmieder oder Korsette zur Stabilisierung nach Wirbelsäulen-OPs oder orthopädische Einlagen, bei denen moderne Messsysteme und CNC-Technik zum Einsatz kommen, werden hier angefertigt.
(Fotos und Text: Christian Busse, Pressesprecher, Mühlenkreiskliniken AöR)